Vor einigen Tagen spazierte ich an einem sonnigen Nachmittag mit einem guten Freund durch Berlin Kreuzberg. Wir hatten uns schon eine Zeit lang nicht mehr gesehen und hatten viel im Gespräch aufzuholen. Wir sprachen über viele Themen, über alles, was uns derzeit beschäftigte und darüber, was die Zukunft wohl so für uns bereithalten würde. Als wir an einer Straße mit Ginkgobäumen vorbeikamen, wurde mir schlagartig bewusst, dass dazu ein Text folgen muss.
Ist es so, dass wir in unserem täglichen Tun zeitweise der äußeren Schönheit mehr Gewichtung geben und dann häufig auf eine innere Schönheit oder besondere Qualität schließen? Man kann also den Vorwurf der Oberflächlichkeit, naiven und vorschnellen Überhöhung erheben. Ich bin davon nicht freizusprechen und ich treffe zeitweise Entscheidungen auch ganz oberflächlich. Schrecklich oder? Mich ehrt das natürlich in keiner Weise, aber vielleicht können mir diese Gedankenschnipsel zum Ginkgo dabei helfen, etwas (selbst-)kritischer zu werden.
Seit meiner Schulzeit bin ich fasziniert vom Ginkgo. Das mag daran liegen, dass ich mich auch heute noch an eine ganz bestimmte Stunde des Biologieunterrichts erinnere, in welcher Laub- und Nadelbäume thematisiert wurden. Als ein gepresstes Blatt eines Ginkgos rumgereicht wurde und wir die Form und Struktur der Blattadern genauer beschreiben sollten, waren all meine Mitschüler herausgefordert und ich sogar überfordert. Diese Blätter hatten nämlich Merkmale von Laub- sowie Nadelbäumen. Ein schelmisches Lächeln erschien auf den Lippen unserer Biologielehrerin und sie gab die erlösende Antwort. Ginkgo sei weder Laub- noch Nadelbaum, sondern stelle eine ganz eigene Klasse dar. Zudem sei der Ginkgo ein lebendes Fossil und somit eine unglaublich alte Pflanzengattung. Von diesem Weder-Noch bei der Zuordnung war ich ganz angetan. Auch die Blattform des Ginkgos war für mich einzigartig und schlichtweg schön. Nicht umsonst wird er auch aufgrund seiner Fächerform öfter Mädchenhaarbaum genannt.
Jedes Mal, wenn ich in den Jahren nach meiner Schulzeit einen Ginkgobaum sah, stimmte mich das fröhlich und ich behauptete nicht selten, dass dies mein absoluter Lieblingsbaum sei. Bis zu jenem Herbstspaziergang durch Berlin Kreuzberg. Die Freude über den Anblick der vielen wunderschönen Ginkgobäume verflog binnen Sekunden, denn die gesamte Straße war von einem fürchterlichen Gestank erfüllt. Buttersäure! Für mich war das eine ganz neue Seite dieser Bäume. Bei Ginkgos – so las ich danach – gibt es nämlich weibliche und männliche Bäume, wobei weibliche Ginkgos nach einigen Jahren im Herbst Samen ausbilden. Und diese Samen sind während ihrer Reifezeit, da würden mir bestimmt viele Menschen zustimmen, eher eine Beleidigung die Nasen. Ich hatte wohl in all den vorherigen Jahren immer sehr großes Glück bei meinen Begegnungen mit Ginkgos. Entweder waren die weiblichen Bäume noch zu jung oder ich hatte ausschließlich männliche Exemplare gesehen.
Aus diesem Spaziergang konnte ich für mich schließlich kleine Lehren ziehen. Erstens: nichts bzw. niemand ist vollkommen! Diese Ansicht kommt mir sehr gelegen und hilft mir dabei, meinen Perfektionismus über Bord zu werfen, sowie anderen und mir gegenüber etwas gelassener zu werden. Auch der von mir hochverehrte und viel gelobte mystische Ginkgo ist nicht ohne ein Aber zu denken, denn er hat – aus meiner ganz persönlichen Perspektive – ein kleines Manko. Damit kommen wir zur zweiten Lehre: Vollkommenheit liegt sowieso im Auge des Betrachtenden. Einen Aasfresser würde der „Duft“ der Ginkgobäume womöglich in Hochstimmung versetzen. Dinge, die ich kritisieren würde, die mir schlichtweg gegen den Strich gehen, sind in den Augen andere Menschen perfekt bzw. sie nehmen weniger Anstoß daran. Die dritte kleine Lehre des Ginkgos zielt auf die Zeit. Es bedarf bei der Beurteilung von Menschen und auch Dingen immer auch etwas Zeit. Diese Zeit sollte ich mir auch nehmen und nicht zu voreilig urteilen. Schließlich kann ich auch nach einem Zeitraum noch überrascht werden, sowohl in positiver als auch negativer Art und Weise. Beim Ginkgo beläuft sich eine solche Zeitspanne auf bis zu 15 Jahren, wenn die weiblichen Bäume erstmalig Samen ausbilden (*schmunzel*)