Eine gewisse Konstanz

Sie wurde kurz vor Sonnenaufgang wach und ihr Rücken schmerzte, als hätte sie tagelang und ohne Unterlass in einem Steinbruch geschuftet. Nicht, dass sie eine wirkliche Vorstellung von der Arbeit in einem Steinbruch hatte, aber sie vermutet jene intensiven Schmerzen dahinter. Von draußen drang das sanfte Rauschen des Windes, der sich in der alten Trauerweide verfing, zu ihr. Die Weide und das Rauschen stellten eine gewisse Konstanz in ihrem Leben dar und ein Blick auf die schwingenden Äste beruhigte sie so häufig. Ihre ersten Kindheitserinnerungen waren verwoben mit dem Baum, der schon immer an der Ostseite des elterlichen Gartens stand und jedem Sturm trotze. Ob die Trauerweide wuchs, konnte sie nicht sagen, denn sie war beständig an ihrem Platz und Veränderungen hätte sie wahrscheinlich nur mithilfe von alten Fotografien wahrnehmen können. Natürlich war der Baum größer geworden, aber ihr kam es so vor, als stünde er schon immer dort in seiner jetzigen Pracht. Die Trauerweide war einfach da, stand unverändert und fest an ihrem ihr vor Ewigkeiten zugeteilten Platz. Früher diente sie nicht selten als Schattenspender an heißen Sommertagen. Oft saß sie gedankenversunken auf der Schaukel, die ihr der ehemalige Gärtner zum Abschied an einen der stärkeren Äste befestigt hatte. Heute war alles anders und sie konnte sich nur noch dunkel an ihre letzten Schaukelstunden erinnern. Das Holz des Sitzes war mit den Jahren immer dünner geworden und hatte einen grünen Farbton entwickelt. Fast wie oxidierendes Kupfer, denn Moose und Flechten hatten sich der Schaukel bemächtigt. Vielleicht, so dachte sie sich, wird es Zeit die alte durch eine neue aus dem Baummarkt zu ersetzen. In Zukunft würde der Hof schließlich wieder mit mehr Leben erfüllt sein und eine Schaukel gehörte für sie zu einer jeden glücklichen Kindheit.

Die Dielen knarrten als sie ihren rechten Fuß behutsam auf den Boden setzte und sich langsam aufrichtet. Sie hatte entschieden, dass die Nacht für sie nun definitiv beendet war, gönnte ihm allerdings noch ein paar weitere Stunden Schlaf. Er schlief immer gut und es war eine Wonne für sie, zu beobachten wie sich sein Brustkorb langsam hob und wieder senkte. Sein Gesicht zeigte dabei eine so tiefe Entspannung, dass sie fast etwas neidisch wurde. Bald würde nicht mehr an Durchschlafen zu denken sein und sie würden sich über jede Minute freuen, in der sie Schlaf fänden.

Leise verließ sie den Raum, griff beim Vorbeigehen noch zu ihrem graumelierten Wollcardigan, der über dem Stummen Diener hing und ging in die Küche.

Ihr Rücken schmerzte noch immer bei jeder Bewegung und die wenigen Schritte in die Küche waren unvorstellbar kraftraubend. Hatte sie sich verlegen und würden die Schmerzen im Laufe des Tages nachlassen? Normalerweise waren ihr Rückschmerzen fremd, insbesondere solche im unteren Bereich. Sie bewegte sich für gewöhnlich ausgiebig und war täglich viele Stunden an der frischen Luft. Woher kamen plötzlich diese quälenden Schmerzen?

Um auf andere Gedanken zu kommen, ging sie langsam zur Kaffeemaschine. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee vertrieb schließlich immer die Müdigkeit. Warum sollte das nicht auch für ihre Rückenschmerzen gelten? Schnell durchströmte der Duft die Küche und gab ihr kurzzeitig ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Wie jeden Tag füllte sie erst kalte Milch und dann den heißen Kaffee in ihre lavendelfarbene Lieblingstasse. Sie konnte noch nie heiß trinken und das würde wohl auch für immer so bleiben. Eine weitere gewissen Konstanz für sie. Mit der Tasse, aus der Dampf sanft nach oben in ihr Gesicht stieg, trat sie ans Fenster, blickte in den Garten und streichelte sanft über ihren gewölbten Bauch. Es dämmerte nun und verschiedenste Vögel sangen ihr morgendliches Loblied an den neuen Tag. Hinter der Trauerweide erstreckten sich Wiesen und Felder. Weit hinten am Horizont begann ein Kiefernwäldchen, davon einmal abgesehen störte nichts den Blick in die weiteFerne. Nebel hing noch über der Streuobstwiese und der Tau machte ein großes Spinnennetz an der alten Schaukel sichtbar. Der Tag war noch ganz jung und ruhig.

Sie zählte in Gedanken die Tage. Bis zur Geburt würden noch drei Wochen vergehen und dann würden sie ihr so sehnlichst erwartetes Kind endlich in Empfang nehmen können. Fast wäre die Beziehung daran zerbrochen und sie ließ die letzten sechs Jahre im Geiste an sich vorbeiziehen. Sie hatten alles versucht, waren bei unzähligen Ärzten gewesen, aber immer waren die Ergebnisse niederschmetternd. Drei Fehlgeburten mussten sie beide ertragen und hatten dabei jedes Mal von Neuem großes Leid ertragen. Als beide schon nicht mehr damit rechneten, jemals Eltern zu werden, wurde sie doch unerwartet schwanger. Routiniert hatte sie damals wieder einmal einen Schwangerschaftstest gekauft, machte sich allerdings keine allzu großen Hoffnungen. Schließlich war sie erst eine halbe Woche überfällig. Als plötzlich der zweite Strich im Kontrollfenster auftauchte, musste sie sich behutsam auf den Badewannenrand setzen, denn ihr versagten die Beine. Es war ihr gemeinsames Wunder. Auch er war glücklich und erleichtert. Etwas schien von ihm abzufallen, denn seit Monaten lachte auch er wahrhaftig. Kein aufmunterndes und gequältes Lächeln, wie er es ihr bis dahin immer zugeworfen hatte. Die Schwangerschaft verlief ausgezeichnet und sämtliche Vorsorgeuntersuchungen zeigten eine optimale Entwicklung ihres Kindes. Schmerzen, wie sie sie heute hatte, waren gänzlich neu.

Kurz fröstelte ihr und sie schlang den dicken Wollcardigan ganz um ihren Körper. Unter normalen Umständen wäre er ihr viel zu groß, aber nun konnte sie den ganzen Bauch mit ihm bedecken und kuschelte sich gerne in ihre „Decke mit Ärmeln“ – wie er den Cardigan immer nannte.

Sie atmete tief ein und hoffte, dass der Schmerz nun endlich etwas nachlassen würde. Es fühlte sich fast schon etwas besser an und sie atmete ganz ruhig und tief ein. Schlagartig und unerwartet heftig war er wieder da. Wie ein Schwerthieb durchzog der Schmerz sie und es war, als würde alles in ihr von diesem Schmerz erfüllt. Die Kaffeetasse fiel zu Boden und zerbarst. Ein Schrei – tief aus ihrem Inneren – bahnte sich den Weg aus ihrem Mund. Sie sackte kraftlos in sich zusammen und hielt ihren Bauch mit beiden Händen fest umschlossen. Vom Schrei aufgeweckt, hastete er in die Küche und sah nur Blut. Unschuldiges Blut. Es würde bei jener gewissen Konstanz in ihrem Leben bleiben.