Das Kind, das nicht fragte | Hanns-Josef Ortheil

Blick über die sizilianische Landschaft bei Piazza Armerina

Anfang des Jahres reiste ich nach Sizilien, um dem Grau und der Kälte Berlins für kurze Zeit zu entfliehen. Als Reiselektüre schenkte mir eine sehr gute Freundin den Roman „Das Kind, das nicht fragte“. Ich erhielt ihr Geschenk aber leider erst nach meinem Urlaub und so verlängerte der Roman schließlich meine Erinnerungen an die wunderbaren Tage auf Sizilien.

Inhalt:

Das Kind, das nicht fragte
Das Kind, das nicht fragte von Hanns-Josef Ortheil
© Verlagsgruppe Random House

Der Ethnologe Benjamin Merz landet an einem Frühlingstag mit dem Flugzeug auf Sizilien, um dort die Lebensgewohnheiten der Menschen von Mandlica, einer kleinen fiktiven Stadt im Süden der Insel, zu erforschen. Er freut sich auf seine Forschungstätigkeit in der Stadt der Dolci, wie Mandlica wegen seiner berühmten Süßigkeiten auch genannt wird, und erhofft sich eine Auszeit vom Leben in Köln. Dort bewohnt er noch immer eine kleine Wohnung im Dachgeschoss seines Elternhauses und bestreitet seinen Lebensunterhalt mit den Mieteinnahmen aus dem Haus und seiner Tätigkeit als Privatdozent an der Kölner Universität. Seine Eltern sind bereits verstorben und als jüngstes von fünf Kindern steht Benjamin weiterhin unter den Fittichen seiner Brüder. Diese sind als Arzt, Apotheker, Anwalt und Studiendirektor sehr erfolgreich und haben jeweils Familien gegründet. Benjamin hingegen hat bisher weder Frau noch Kinder und scheint nach einigen gescheiterten Beziehungen ein ewiger Junggeselle zu bleiben.

Seit Kindheitstagen leidet der eher introvertierte Benjamin unter der Dominanz seiner Brüder. Er traute sich irgendwann nicht einmal mehr die einfachsten Fragen zu stellen, wurde dafür aber ein bemerkenswert guter Zuhörer. Um den Schikanen seiner Brüder zu entgehen, lernte Benjamin im Laufe der Zeit Worte, Mimik und Gesten genau zu deuten. Seine Talente, genau hinzuhören, das Gehörte treffend zu interpretieren und sich in seine Gesprächspartner hineinzuversetzen – Eigenschaften, die einen guten Ethnologen auszeichnen – kommen ihm in Mandlica zugute. Von den Frauen und Männern Mandlicas werden Benjamin sogar hellseherische Fähigkeiten zugesprochen und schnell vertrauen sich ihm die Bewohner der Stadt an, beginnen von ihren Familiengeheimnissen und verborgenen Wünschen zu erzählen. Nur von sich mag Benjamin hingegen nichts erzählen oder preisgeben, denn seine Vergangenheit belastet ihn schwer.

Bei seinem Aufenthalt auf Sizilien lernt Benjamin schließlich auch Paula, eine ruhige und literaturbegeisterte Übersetzerin kennen. Erst durch sie bietet sich ihm die Möglichkeit, vom Fragenden zum Erzähler zu werden und die Verletzungen seiner Kindheit Stück für Stück zu überwinden.

Meine Meinung zum Buch:

Das Buch brachte mir die warmen Farben, das typische Licht, die Schwere des Weines und all die kulinarischen Köstlichkeiten Siziliens zurück. Fast kostete ich abermals von den Sizilianischen Cannoli und hielt mein Gesicht in die wärmende Nachmittagssonne.

Hanns-Josef Ortheil beschreibt die Insel äußerst detailliert und erläutert anhand des Protagonisten die Fundamente der ethnologischen Arbeit. Techniken zum Führen von narrativen Interviews und die Methode der teilnehmenden Beobachtung werden – für einen Roman – sehr akribisch dargestellt. Faszinierend fand ich, dass Ortheil einige autobiografische Elemente einfließen lässt. So hatte er selbst hatte vier Brüder, die allerdings alle früh verstorben sind. Auch die Sprachlosigkeit seines Protagonisten kann als Gemeinsamkeit mit dem Autor gedeutet werden, denn in seiner Kindheit gab es eine jahrelang andauernde Episode, in der er sich weigerte zu sprechen.

Ein wenig Anstoß nehme ich an der Vorhersehbarkeit der Handlung. So wird beispielsweise schnell klar, dass Benjamin nicht wieder in sein altes Leben zurückkehren wird und Paula jene Frau ist, die er so lange suchen musste. Die Stärke des Romans liegt darin, Benjamin auf seinem Weg zu sich selbst zu begleiten. Eine seichte Lektüre ohne extreme Höhen und Tiefen für kalte, graue Wintertage.